Feldforschung am Ballermann
Wo Migration auf Massentourismus trifft
Ein Forschungsteam der Kölner Uni zieht es immer wieder nach Mallorca an den Ballermann. Allerdings fahren die Leibnizpreisträgerin und Afrikanistin Anne Storch und ihre Kolleginnen und Kollegen nicht zum Vergnügen auf Deutschlands beliebteste Urlaubsinsel. Das Team möchte vielmehr die Sprachpraktiken von Migrant_innen unter den extremen Bedingungen des Massentourismus erforschen. Aber kann man am Ballermann wirklich ernsthafte Wissenschaft betreiben?
„Helmut, heute billig, morgen teuer. Hundert Jahre Garantie.“ Am Strand von S’Arenal, dem Partybezirk von Palma de Mallorca, ist das der Standardsatz, mit dem Sonnenbrillenverkäufer_innen aus Westafrika die Tourist_innen aus Deutschland ansprechen. Der Spruch ist mittlerweile so gängig, dass er als Aufdruck auf T-Shirts prangt, die in Souvenirshops zu kaufen sind. Eine musikalische Formation namens Honk! baute ihn sogar in ihren Ballermann-Hit „Hallo Helmut“ ein. Ob auch die afrikanischen Urheber_innen am kommerziellen Erfolg des Hits beteiligt sind, ist allerdings fraglich.
In den Tourismuszentren Mallorcas begegnet man den fliegenden Händler_innen aus dem Senegal, Nigeria und Mali überall. Frauen, die Haare flechten oder als Sexarbeiterinnen tätig sind. Capoeira-Künstler_innen vor den Cafés und Kneipen. Wie erwerben diese Menschen die sprachlichen Fähigkeiten die sie brauchen, um Geld zu verdienen? Diese Frage stand am Anfang des Forschungsprojekts, das die Afrikanistinnen Anne Storch, Angelika Mietzner und Fatou Cissé Kane, den Afrikanisten Nico Nassenstein, die Historikerin Nina Schneider vom Global South Studies Center (GSSC) und die Ägyptologiestudentin Janine Traber seit Juni 2016 immer wieder auf die Insel zurückkehren lässt. Durch teilnehmende Beobachtungen, Interviews und den persönlichen Austausch mit den Menschen vor Ort haben sich seither viele weitere Fragen ergeben, die über die rein linguistische Forschung hinausgehen.
Teil des Geschehens und doch außen vor
Am „Ballermann 6“ herrscht der Ausnahmezustand. Es ist ein Ort des Karnevalesken, der Ekstase. Partytourist_innen ziehen kostümiert durch die Straßen, trinken und lassen abends in der Disko die Hüllen fallen. Die Straßenhändler_innen gehören zu dieser lauten, bunten Welt, aber zugleich leben sie in einer ganz anderen. Auf der Partymeile und am Stand treten sie als lockere Kumpels der Touriste_innen auf. Sie haben Repertoires in unterschiedlichen Sprachen parat, um ein Verkaufsgespräch anzubändeln. Manchmal erfinden sie auch Reime, die vordergründig die eigene Rolle ironisieren: „Senegal, illegal, scheißegal, Wuppertal“ sorgt bei Deutschen für Lacher und bewegt den einen oder anderen vielleicht doch zum Kauf eines Sonnenhuts, eines Plüschäffchens oder einer Brille.
Doch dann kommt die Polizei und macht eine Razzia. Die illegalen Händler_innen fliehen und verstecken sich – eine Belustigung der besonderen Art für die Tourist_innen, die dieses Spektakel beobachten. Das führt die lockere Partyatmosphäre ad absurdum und zeigt, dass am Strand eben nicht alle gleich sind. Die einen haben Papiere, die anderen nicht; die einen haben ein Rückflugticket, die anderen nicht. Eine ungezwungene Begegnung auf Augenhöhe findet hier nicht statt, meint Anne Storch, die die Dotierung des Leibnizpreises auch zur Finanzierung dieses Forschungsprojekts einsetzt.
Diesen Sommer machte der Bierkönig, eine der bekanntesten Massenkneipen Mallorcas, Schlagzeilen. Deutsche Rechtsradikale hatten rassistische Parolen gebrüllt und Menschen angepöbelt. Spätestens dieser Vorfall und die vielen anderen negativen Begleiterscheinungen des Massentourismus sorgen mittlerweile für Unmut unter den Mallorquiner_innen. Seit dem Sommer hat sich eine Protestbewegung formiert, die Maßnahmen gegen die Umwandlung von regulärem Wohnraum in Ferienwohnungen und ein Ende des „Sauftourismus“ fordert. Doch diese Proteste richten sich nicht gegen die Menschen aus Westafrika. Sie gehören irgendwie dazu, sind mit ihren witzigen Sprüchen „Kult“.
Ein glücklicher Zufall
Alles fing durch einen Zufall an. Als Anne Storch und Nico Nassenstein im Juni 2016 auf dem Rückweg vom Sociolinguistics Symposium in der spanischen Stadt Murcia waren, hatten sie einen längeren Zwischenstopp auf Mallorca. Um sich die Zeit zu vertreiben, fuhren sie an den Ballermann. Ihnen war sofort klar, dass hier etwas Außerordentliches passierte. Massentourismus trifft auf illegale Migration – hier war ein prägendes Merkmal der Globalisierung zu beobachten. „Vorstellungen vom ‚Globalen Süden‘ und ‚Globalen Norden‘ werden hier regelmäßig über den Haufen geworfen“, sagt Nina Schneider vom GSSC. „Wir werden ständig gezwungen, unsere eigenen Kategorien neu zu überdenken.“
Traditionelle linguistische Forschung, wie sie auf der Konferenz in Murcia präsentiert wurde, ist am Ballermann kaum möglich. Die Sprachen vermischen sich, wodurch das Konzept der Mehrsprachigkeit eine ganz neue Bedeutung erhält. Das zwingt die Wissenschaftler_innen auch, die eigenen Praktiken und Konzepte – sogar die eigene Rolle als Expert_innen – immer wieder infrage zu stellen. Doch gerade das ist eine wichtige Erfahrung, denn sie erlaubt ihnen, die Perspektiven der zumeist illegalen Migrant_innen als gleichberechtigt anzuerkennen. So erfahren die Forscher_innen viel mehr über ihren Alltag, ihre Lebensentwürfe, ihre Wahrnehmungen.
Lebenspläne und Lebensbrüche
Festus Badaseraye kam vor fast dreißig Jahren über Umwege aus Nigeria nach Mallorca. Er arbeitete auf dem Bau, irgendwann wurde er Taxifahrer. Fünf Jahre wollte er bleiben, länger nicht. Genug Geld verdienen, um sich zuhause eine Existenz aufzubauen. Der große, lebhafte Mann ist mittlerweile Anfang fünfzig, hat eine mallorquinische Frau und drei Söhne, und will nicht mehr zurück nach Afrika – jedenfalls nicht für immer. Trotz seiner gesicherten Existenz hat er den Blick für Not und Ungerechtigkeit aber nicht verloren. Er möchte heute mit dem Geld, das er in Europa verdient, den Bau einer Mädchenschule in Nigeria ermöglichen. Auch vor Ort engagiert er sich politisch: er führt einen Prozess gegen rassistische Beamte in Palma de Mallorca – und erfährt dabei breite Unterstützung in den lokalen Medien.
Heute besitzt Festus Badaseraye einen spanischen Pass und genießt die Vorteile, die die Bürgerschaft eines EU-Landes mit sich bringt. Dennoch ist seine Wahrnehmung ambivalent. Freiheit, so denkt er, ist auch in Nigeria zu finden: Dort kann man mit wenig Geld Baumaterialien kaufen. Dort ist vieles für ihn möglich, was in Europa nicht möglich wäre. Die Kölner Wissenschaftler_innen planen, Festus Badaseraye bei seiner nächsten Reise nach Nigeria zu begleiten. Die Rückkehr der Migrant_innen nach Afrika ist ein wichtiger Aspekt, der neue Sichtweisen eröffnet – für alle Beteiligten.
Wie verändern die Jahre in der Ferne die Menschen? Und wie verändert sich das Heimatland nach so langer Zeit? Es ist wichtig, dass nicht nur die Wissenschaftler_innen, sondern auch die Migrant_innen mit ihren einzigartigen, aber dennoch typischen Erfahrungen zu Wort kommen. Das Forschungsteam ist überzeugt, dass das auch eine Frage der Ethik in der Wissenschaft berührt. Die Linguistik kann damit ihre Verantwortung erkennen, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufzuzeigen. So wird kritische Forschung auch zu einem ethischen Projekt.
Festus Badaseraye ist nun selbst in dem Forschungsprojekt aktiv. Er soll ein Buch über seine Erfahrungen und die Umstände seiner Migration schreiben. Es wäre schon sein zweites: Viele Erlebnisse hat er bereits in seinen Memoiren „De África Llegué“ beschrieben.
Schwerstarbeit für die Party, die nie endet
Die meisten Migrant_innen aus Westafrika wollen, wie damals auch Festus Badaseraye, maximal fünf Jahre bleiben, um genug Geld für eine eigene Existenz zusammenzusparen. Aber Pläne ändern sich und manchmal sind es auch die äußeren Umstände, die die Handlungsoptionen einschränken. Ohne Pass ist die Rückkehr vorerst unmöglich. So schlagen viele Migrant_innen in Europa Wurzeln – aus dem provisorischen Leben wird ein permanentes.
Am Anfang der erträumten Existenz steht eine große Belastung für die illegalen Arbeiter_innen am Ballermann: die alltägliche Dauerbeschallung, die Menschenmassen, die Gerüche. Hinzu kommt die erzwungene Lockerheit, die Performance, mit der die Straßenhändler_innen, Artist_innen und Sexarbeiter_innen tagein, tagaus ihre Kundschaft ansprechen müssen. Am Ende des Tages – und vor allem am Ende der Saison, die mit dem Oktoberfest endet – sind die Menschen erschöpft. In Son Gotleu, einem alten Arbeiterviertel von Palma de Mallorca, in dem heute viele Migrant_innen leben, ist es abends ganz still. Das überraschte die Afrikanistin Storch zu Anfang. Aus ihren Reisen in afrikanischen Ländern war sie es gewohnt, dass abends immer Musik und lebendiges Treiben auf den Straßen herrscht.
Das Forschungsprojekt beleuchtet viele Schattenseiten der Globalisierung. Gleichzeitig zeigt es die Lebensrealitäten von Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Angelika Mietzner ist daher überrascht, dass das Projekt in Teilen der akademischen Welt belächelt wird. Linguistische Forschung am Ballermann – das klingt für manch seriöse Linguisten eher nach einer Schnapsidee. „Aber es heißt doch immer, Forschung solle nah dran sein am Menschen“, sagt sie. „Näher geht es nun wirklich nicht.“
von Eva Schissler