Wie entstehen globale Bestseller?
Geduldig wartet Gabriel García Márquez am 6. März 1983 auf dem Rollfeld des Palam Airport von Neu-Delhi in der Maschine, die ihn gemeinsam mit Fidel Castro aus Kuba zu einer Gipfelkonferenz der Bewegung der Blockfreien Staaten nach Indien gebracht hat. Dem Protokoll gemäß soll zunächst der kubanische Revolutionsführer den Flieger verlassen – als plötzlich Indira Gandhi selbst die Treppe zum Flugzeug erklimmt, an Castro vorbeimarschiert und ausruft: „Wo steckt García Márquez?“ Von da an seien er und Gandhi „unzertrennlich“ gewesen, erzählte García Márquez später: „Am dritten Tag hatte ich das Gefühl, sie sei in Aracataca geboren worden“, seinem kolumbianischen Heimatdorf, das in seinem Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ als „Macondo“ Eingang in die Weltgeschichte fand.
Was als kleine Anekdote aus dem an aufregenden Geschichten nicht eben armen Leben des Literaturnobelpreisträgers daherkommt, ist für Gesine Müller ein bedeutender Teil einer Sphäre, die die Literaturwissenschaft erst seit jüngerer Zeit in den Blick genommen hat. Die Kölner Professorin für Romanische Philologie beschäftigt sich mit den „Konstruktionsprozessen von Weltliteratur“, das heißt: mit den hinter global zirkulierenden Werken stehenden Kräften, die überhaupt erst dazu beitragen, dass ein Roman seinen engeren Wirkungskreis verlässt und zu einem Teil der Weltliteratur wird. „Reading Global“ heißt ihr vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit knapp zwei Millionen Euro gefördertes Forschungsprojekt, das stellvertretend um die lateinamerikanischen Literaturen kreist.
„Dabei geht es im Kern darum, wie globale Bestseller von Autoren wie García Márquez oder Vargas Llosa eigentlich entstehen, welche Faktoren – oft jenseits des eigentlichen Werks – dafür sorgen, dass bestimmte Texte einem Weltpublikum zugänglich werden und andere nicht“, erklärt Gesine Müller: „Betrachtet man die Literaturen der Welt als eine Art Fenster zu anderen Realitäten auf dem Globus, dann ist es wichtig zu verstehen, dass diese Romane und Gedichte, die wir beispielsweise in Europa aus Lateinamerika oder Afrika lesen, eben nicht wie durch Zauberhand in die Buchläden gelangen. Jeder Text hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Reihe von Prozessen durchlaufen, an der nicht nur konkrete Personen beteiligt sind, sondern bei denen auch eine ganze Menge an implizit mitlaufenden Bildern und Imaginarien eine große Rolle spielen.“
Um diese Prozesse zu entschlüsseln und damit ihrerseits lesbar zu machen, haben sich Müller und ihr Team aus Literatur-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaftlern einiges an „Detektivarbeit“ vorgenommen. An die Stelle herkömmlicher Textanalysen treten die Beschäftigung mit Verkaufsstatistiken, Verlagskorrespondenzen, Marketingmaterialien und internationalen Presseberichten, außerdem Gespräche mit Verlegern, Literaturagenten, Lektoren, Übersetzern oder Literaturkritikern. Die lateinamerikanische Literatur bot sich als Modellfall für die Untersuchung an, weil es sich um ein historisch relativ geschlossenes Teilgebiet der Weltliteratur handelt und sich das Feld auch zeitlich klar abgrenzen lässt.
Bis zum Ende der 1950er Jahre war Lateinamerika in literarischer Hinsicht noch weitgehend eine terra incognita. Das änderte sich, als der Subkontinent infolge der Kubanischen Revolution globale Aufmerksamkeit auf sich zog, womit auch das Interesse an seinen Literaturen erwachte, offenbar in der Erwartung, auf diesem Wege mehr über die lateinamerikanische Identität zu erfahren. Die Funktion eines „zentralen Steuerelements“ in dieser ersten Phase einer „forcierten globalen Zirkulation“ von Werken lateinamerikanischer Schriftsteller übernahm das 1967 in New York gegründete „Center for Inter-American Relations“ (CIAR) durch die gezielte Förderung von Übersetzungen für den US-amerikanischen Markt.
Auch europäische Buchverlage - wie Suhrkamp in Deutschland, Gallimard in Frankreich, Seix Barral in Spanien, Einaudi in Italien und Meulenhoff in den Niederlanden - entdeckten damals ihr Herz für Lateinamerika. Der Frage, welche Motive bei der Selektion bestimmter Autoren und ihrer Werke ausschlaggebend waren, ist ein Teilprojekt von „Reading Global“ gewidmet. Indessen geht es dem Kölner Team explizit nicht etwa nur um die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Europa und den USA, den klassischen Hochburgen der Buchproduktion, sondern vor allem auch um Süd-Süd-Beziehungen, das heißt um das Echo in den Ländern des globalen Südens, der damit aus der vermeintlichen Peripherie ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Warum löste „Hundert Jahre Einsamkeit“, der mit mehr als 30 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in 35 Sprachen bis heute erfolgreichste Roman aus dem globalen Süden, in Indien eine womöglich noch größere Begeisterung aus als in anderen Weltregionen? Aus westlicher Perspektive haftete dem „magischen Realismus“ eines García Márquez immer auch etwas Exotisches an. Ganz anders beispielsweise in Indien, wo man die eigene Lebenswelt unmittelbar widergespiegelt sah. „Eine Sache, die mich berührte, war die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen der Welt, die García Márquez schilderte, und der südasiatischen Welt, die ich aus Indien und Pakistan kannte“, schrieb der in Bombay aufgewachsene Schriftsteller Salman Rushdie 2007 in einer Hommage auf sein großes Vorbild aus Lateinamerika: „Es war eine Welt, in der Religion und Aberglaube das Leben der Menschen beherrschte. Eine Welt mit einer wirkmächtigen und komplizierten kolonialen Geschichte. Eine Welt, in der die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinander klaffte, mit so gut wie nichts dazwischen. Eine Welt, die von Diktatoren und Korruption geplagt wurde. Deshalb wirkte für mich das, was in den Werken von García Márquez als ‚fantastisch’ bezeichnet wurde, vollkommen naturalistisch.“
Rushdie behielt die erste Lektüre eines Textes von Márquez als ein „kolossales Ereignis“ in Erinnerung, ohne den sein eigener globaler Erfolg mit Bestsellern wie „Mitternachtskinder“ nicht denkbar gewesen wäre. In China wurde „Hundert Jahre Einsamkeit“ nach seiner ersten autorisierten Übersetzung innerhalb weniger Wochen über eine Million Mal verkauft. Doch fundamentale Kenntnisse über den Buchmarkt in Indien und China fehlen nach wie vor. Auch hier will „Reading Global“ Abhilfe schaffen. In dieser Hinsicht leistet das Projekt schon auf rein deskriptiver Ebene Pionierarbeit.
Bleiben, last not least, die „Schattenseiten“ des weltweiten Erfolgs lateinamerikanischer Erzählliteratur. Zeitgenössischen Autoren wie Juan Carlos Onetti (Uruguay), Guillermo Cabrera Infante (Kuba), Antonio Di Benedetto (Argentinien) oder Salvador Elizondo (Mexiko) war keine auch nur annähernd vergleichbare, globale Wirkung beschieden, wie sie dem Netzwerk um Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes oder Mario Vargas Llosa zuteil werden sollte. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Warum spielte die brasilianische Literatur anfangs nur eine so marginale Rolle? Warum befand sich selbst im erweiterten Kreis der dem damaligen „Boom“ zugerechneten Autoren keine einzige Frau?
Die umfassende Bestandsaufnahme, die das Projekt erarbeitet, wird erstmals mit theoretischen Neuerungen in der seit zwei Jahrzehnten höchst aufgeladenen Debatte um „Weltliteratur“ zusammengebracht, zu denen die Forderung nach einer Ablösung von eurozentrischen Wissensformen gehört. „Wie Oberst Aureliano Buendía, die wichtigste Figur in ‚Hundert Jahre Einsamkeit’, am Ende des Romans die eigene Geschichte – und auch hier kommt wieder Indien ins Spiel – als auf Sanskrit abgefasst zu identifizieren weiß“, so Gesine Müller, „so leisten auch wir einen Beitrag zur Entzifferung jener Vorgänge, die aus einem einfachen Buch ein Stück Weltliteratur machen, vor dem sogar die großen Revolutionäre der Geschichte manchmal ganz unbedeutend wirken.“
von Irene Meichsner