Moderne Sklaverei?
Unfreie Arbeit gestern und heute
Die Skandale um menschenrechtswidrige Arbeitsbedingungen auf den Großbaustellen des Wüstenstaates Katar im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2022 reißen nicht ab. Damit rückt ein System moderner Sklaverei in den Fokus der Weltöffentlichkeit, das eine lange Tradition hat.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die atlantische Sklaverei nach und nach abgeschafft. Das bedeutete jedoch nicht das Ende von Ausbeutung und Entrechtung in den europäischen Kolonien. Im Gegenteil: Der Bedarf an billigen, flexibel verfügbaren Arbeitskräften explodierte. Ab 1830 entwickelte sich auf den Plantagen in der Karibik, in Afrika, Lateinamerika und Südostasien eine Grauzone der unfreien Arbeit zwischen Lohnarbeit und Sklaverei. Das neue System brachte Millionen entrechteter Kontraktarbeiter_innen aus Indien und China – sogenannte „Coolies“ – in die europäischen Kolonien.
Formen dieser Arbeitsverhältnisse gibt es nach wie vor. Wissenschaftler_innen des GSSC-Arbeitsbereichs „Migration und Arbeit“ beschäftigen sich mit aktuellen und historischen Formen der Coolie-Arbeit und untersuchen, wie sie bis heute die globale Wirtschaftsordnung prägen. Aber auch, wie diese Menschen selbst ihren Lebensraum gestalteten und eigene Identitäten entwickelten und entwickeln. Die Historikerin Ulrike Lindner forscht am GSSC zu Imperialismus und Kolonialismus. „Wo haben sich diese Menschen Freiräume geschaffen, ihre soziale Situation aktiv mitgestaltet?“ Lindner ist überzeugt, dass diese Fragen genauso wichtig sind wie die äußeren Umstände, die das Leben der Coolies bestimmten. „Eine reine Opferperspektive würde hier zu kurz greifen.“
Das Coolie-System brachte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehr als eine Million Arbeiter_innen aus Indien in die Karibik, nach Afrika und Südamerika. Diese Zahl verblasst jedoch fast angesichts der etwa 15 Millionen Menschen, die aus China nach Südostasien und in die Amerikas auswanderten. Diese Wanderarbeit stellt eine der größten Migrationsbewegungen aller Zeiten dar.
Coolies wurden nicht mehr, wie einst Sklav_innen, als Besitz ge- und verkauft. Sie hatten zwar zeitlich befristete Arbeitsverträge, aber sie verstanden sie meist nicht. Sie erhielten einen Lohn, aber der war so niedrig, dass sie kaum davon leben konnten. Klauseln zur Rückzahlung der Reisekosten oder zu der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses führten oft in eine Schuldenfalle – was wiederum einen Folgevertrag nach sich zog, der noch tiefer in die Abhängigkeit führte. Der Unterschied zur Sklaverei existierte also in manchen Fällen fast nur auf dem Papier.
Das Kafala-System
Mit ähnlichen Bedingungen sind Wanderarbeiter_innen in den boomenden Industrieländern Asiens und am arabischen Golf noch heute konfrontiert. „Es ist bemerkenswert“, so Lindner, „wie sehr sich die Verträge über Raum und Zeit ähneln.“ Zwar sind ausbeuterische Gastarbeitersysteme nicht auf Katar, Dubai und die anderen Golfstaaten begrenzt, hier treiben sie jedoch besondere Blüten. In Katar machen eingewanderte Arbeitsmigrant_innen heute fast 80 Prozent der gesamten Arbeiter_innenschaft aus. Mit der Entdeckung von Ölvorkommen in den 1930er Jahren entwickelten die Golfstaaten einen enormen Bedarf an ausländischen Arbeitskräften.
Geregelt werden die Arbeitsverhältnisse durch das sogenannte Kafala-System. Die Gastarbeiter_innen brauchen einen „Kafil“, eine_n Patron_in, um einen meist zeitlich befristeten Arbeitsvertrag einzugehen. Das kann eine Einzelperson sein, aber auch ein Unternehmen. Im Gegenzug übernimmt der Kafil die Verantwortung für die Versorgung der Arbeiter_innen und zahlt in vielen Fällen für deren Einreise.
Ein solches System ist prinzipiell nicht menschenrechtswidrig. Das Besondere an dieser Beziehung ist jedoch, dass der Staat einen beträchtlichen Teil seiner Regulierungsmacht bezüglich der Ein- und Ausreise fremder Staatsbürger_innen an Privatpersonen im eigenen Land abtritt. Das macht es besonders anfällig für Korruption und Missbrauch. Arbeiter_innen sind der Willkür ihrer Arbeitgeber_innen schutzlos ausgeliefert.
Die schwere Arbeit auf den Baustellen ist eine typische männliche Erfahrung der modernen unfreien Arbeit. Aber es gibt auch eine typisch weibliche. Philippinische und indonesische Hausangestellte arbeiten in den Golfstaaten, aber auch in Ländern wie Singapur unter ähnlich prekären Bedingungen. Zu ausbeuterischen Löhnen und rechtswidrigen Arbeitszeiten kommt oft noch die Gefahr sexueller Übergriffe. Oftmals ist es den Frauen auch verboten, das Haus zu verlassen. Da sie rechtlich kaum gegen Missbrauch und Gewalt vorgehen können, fliehen viele Hausangestellte und suchen sich auf dem Schwarzmarkt eine neue Anstellung.
Ausbeutung in der Ferne
Wie kann es sein, dass auch heute noch so viele Menschen in die Fänge von Agenturen geraten, die sie in unfreie Arbeitsverhältnisse vermitteln? Oft haben Arbeitsmigrant_innen bereits im Herkunftsland Schulden. Frauen sahen und sehen in der Wanderarbeit eine Möglichkeit, einer Situation häuslicher Gewalt zu entfliehen. Manchmal investiert auch eine ganze Familie in die Ausreise eines Mitglieds. Der Transfer von Geld in das Herkunftsland gehört fast immer zu dieser Art von Arbeitsverhältnis. Manchmal ist die Ausbeutung in der Ferne auch immer noch ein bisschen besser als das Elend zuhause. Und es gibt auch die Fälle, in denen aus der erhofften Chance auf ein besseres Leben tatsächlich etwas wird. Solche Erfolgsgeschichten üben einen besonderen Sog aus und stellen die vielen Geschichten von Misserfolg und Leid in den Hintergrund.
Eine eindeutige Bewertung der verschiedenen historischen und aktuellen Formen unfreier Arbeit ist schwierig. Die Grenzen zur freien Arbeit sind in manchen Fällen fließend. Dazu kommt, dass viele der Vermittler_innen in den Herkunftsländern der Arbeitsmigrant_innen am Geschäft mit den Lebensträumen gut mitverdienen. Eine klare Abgrenzung zwischen Täter_innen und Opfern ist daher oft problematisch. In Zukunft möchte die GSSC-Arbeitsgruppe „Migration und Arbeit“ noch stärker die Handlungsoptionen und Handlungsmacht der Menschen betonen.
„Durch das Aufzeigen bestimmter Muster möchten wir die Debatten um den Globalen Süden um eine historische Tiefe erweitern“, sagt Barbara Potthast, Sprecherin des GSSC. „Der historische Systemübergang von Sklaverei zu Coolie-Arbeit war fließend, und die heutigen Formen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse entstanden nicht im luftleeren Raum.“
Die Ströme von Arbeitsmigrant_innen waren historisch auch von Verschiebungen im globalen Machtgefälle abhängig. Erst die gewaltsame „Öffnung“ des Chinesischen Reichs durch die europäischen Mächte und die Kolonialisierung Indiens machten eine solch massenhafte Bewegung von Menschen möglich. Das beförderte den Aufstieg der europäischen Staaten zu mächtigen Industrienationen und die Übermacht des „Nordens“, die noch heute die Dichotomie des Globalen Nordens und Südens prägt. Heute hat sich das Gefälle zwischen Asien und den Industriemächten in Europa und Nordamerika erneut verschoben – was in Zukunft auch zu Veränderungen in der „Verschiebung“ von Menschen führen könnte.
Von Eva Schissler