skip to content

Poröse Bindungen

Nordafrikanische Migration aus der Sicht eines Ethnologen

 

Halten wir es wie der Ethnologe Martin Zillinger und nennen wir ihn „Khalid“. Khalid hat in Zillingers Text „Migrations(t)räume“ kein genaues Alter, er hat kaum Spezifika, nur einen marokkanischen Pass und den Wunsch, sowie auch den impliziten Auftrag der Familie nach Europa zu gehen und zwar, wie es der Ethnologe Zillinger nennt, auf „klandestinem“, also illegalem Weg. Khalid ist ein junger Mann aus Nordafrika. Er ist einer von unzählig vielen jungen Männern aus der Region, die einen Schleuser bezahlen, sich in ein kleines Boot setzen und so das europäische Festland und danach europäische Großstädte erreichen. Khalids Leben liest sich dabei wie der Prototyp einer Migration, die im historischen Kontext des Mittelmeerraums keine Unregelmäßigkeit darstellt (eher im Gegenteil), die sich aber nach der Kölner Silvesternacht in den vergangenen Jahren symbolisch aufgeladen und in der öffentlichen Diskussion im Norden fast überhitzt zu haben scheint. Migration aus Nordafrika wird heute vorwiegend mit Problemfällen in Verbindung gebracht, kulminierend im aktuellen Wahljahr, wo während der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Jugendorganisation der AfD (JA) Aufkleber verteilte, auf der die Silhouette einer Frau zu sehen war, neben ihr die Forderung „NAFRI go home“ – das Wort „Nafri“ ist mit einer Fußnote versehen, die als Erklärung „Nordafrikanischer Intensivtäter“ anbietet.

Menschen aus dem Maghreb sind von einer marginalisierten, in Deutschland kaum sichtbaren Gruppe in den vergangenen Jahren überhaupt erst zur Gruppe „Nordafrikaner“ zusammengefasst und seit der Kölner Silvesternacht zu der Problemgruppe „Nafris“ subsumiert worden. Martin Zillingers Arbeiten zu „Nordafrikanern“ setzen vor dieser Entwicklung an. Khalid und seine Familie hat er bei seinen Forschungen zu religiösen Sufi-Bruderschaft kennengelernt, bevor sich der junge Mann auf den Weg nach Europa gemacht hat und von Stadt zu Stadt in Europa gereist ist. Was nun hat Khalid mit den, wie man später erfuhr „mobilen Tätergruppen“ vom Kölner Silvester zu tun?

Viel, so Zillinger, denn Khalids Migrationsbiographie zeigt, dass die Migrierenden nicht an nationalstaatlichen Grenzen in Europa halt machen, sondern von Region zu Region ziehen bis sie sich irgendwann verorten können. Im Zuge der Grenzöffnung 2015 wurde Deutschland für viele jungen Männer, die ziellos durch den Euro-Mediterranen Raum wanderten, plötzlich zu einem Möglichkeitsraum, für den sie sich mit Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, Afghanistan und Eritrea als Asylsuchende registrieren ließen.

Das Leben, das marokkanische Migrierende in Europa führen, dreht sich fortwährend um die Frage, wie sich der Aufenthalt legalisieren lässt. Dafür ist Khalid wie alle anderen auch gezwungen flexibel und kreativ sein. Es gibt die Möglichkeit Unternehmer_innen zu bestechen, um einen gefälschten Arbeitsvertrag zu erhalten, Ärzt_innen zu finden, die jahrelange Behandlungen attestieren. Oder zu heiraten. Oder nicht aufzufallen. In dieser Situation der umfassenden Verletzlichkeit laufen Migrierende Gefahr sich doppelt zu entfremden.

Am Beispiel Khalids, den Zillinger aus den Sufi- und Trancenetzwerken seiner Forschung in Marokko kennt, wird deutlich, dass Netzwerke wie beispielsweise regionale Vereine und religiösen Gruppen Menschen in der Diaspora mit ihrer Heimat verbinden. Sie bieten ihnen einen sozialen Schutzraum in der Fremde. Aber es gibt auch Migrierende und ihre Kinder, die eine doppelte Krise durchleben, wenn diese Bindungen porös und unplausibel werden, und gleichzeitig keine neue Bindungen in die europäischen Mehrheitsgesellschaften gefunden werden. Dieser Prozess der anhaltenden Entfremdung, so Zillinger, verstärke die Gefahr von allen moralischen und rechtlichen Codizes befreit und von der Gesellschaft im Herkunfts- wie im Zielland abgelöst leben zu müssen. Es kann der Anfang einer kleinkriminellen Karriere sein, es kann aber auch, wie Zillinger betont, zu Radikalisierung führen. Nämlich dann, wenn Räume so undurchlässig, hermetisch und uniform werden, dass innere und äußere Grenzen nur noch in einer Form überschritten werden: im Kampf. Es habe viel zu lange gedauert, so Zillinger, „bis die europäischen Gesellschaften verstanden haben, dass es sie unmittelbar betrifft, wenn die Eingewanderten wieder auswandern.“ Wenn sie die Gesellschaft, in der sie unter Umständen groß geworden sind und in der sie leben, ebenso radikal ablehnen, wie ihre Herkunftsgesellschaften gewinnt die Vorstellung einer neuen Welt an Kraft, die manche „ in Syrien, Libyen oder dem Irak herbei zu bomben versuchen. Aber die Bewegung junger Männer und Frauen durch den Euro-mediterranen Raum hat nicht nur häufig in Europa ihren Ausgang genommen – es sind Kinder unserer Gesellschaften, die dort in den Krieg gezogen sind – sie lässt sich auch in der Gegenrichtung nicht an den Grenzen Europas aufhalten, sie kommt zu uns zurück.“

Martin Zillinger erzählt mit Khalids Leben eine Geschichte des „legal Werdens“, aber auch des Kampfes, also der alltäglichen Anstrengungen illegal in Europa lebender Menschen aus Marokko. Und der Blick auf den Einzelfall Khalid lohnt sich. Nach seiner Ankunft in Italien kann Khalid auf ein breites Netzwerk von Verwandten zurückgreifen. Sie unterstützen Khalid mit Unterkunft und Rat. Auf seiner weiteren Reise durch Europa greift Khalid auf die spirituellen Netzwerke der Sufi-Bruderschaft zurück, in die sich bereits seine Eltern und Großeltern in Marokko eingebracht haben. Es sind diese Verbindungen, diese Netzwerke, die soziale und materielle Ressourcen bereit halten, um Grenzen in Schwellen umzuwandeln. Das betrifft sowohl die physischen Grenzen, wie das Mittelmeer - bereits zuvor migrierte Mitglieder der Trance-Gemeinde können Schleuser „empfehlen“ oder Tipps für Überfahrten geben –, aber auch die gesellschaftlichen Grenzen im Ankunft- und Zielland der Migrierenden. Khalid beispielsweise, der von Italien weiter nach Frankreich reist und schließlich in Brüssel ankommt, wird es durch diese Bruderschaft leichter gemacht, sich vor Ort zurechtzufinden, da er hier auf Bekannte und Bekannte von Bekannten trifft, in einem gewissen Umfang kann er sich darüber hinaus Geld borgen, wenn es dringend notwendig ist. So zweischneidig diese Hilfsnetzwerke aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaften sein mögen, für die Migrierenden gibt es wenig Alternativen. „ Das muss uns zu denken geben. Wenn wir keine Banlieues entstehen lassen wollen, sollte in unseren Gesellschaften weniger diskutiert werden, wie wir Grenzen höher ziehen, sondern vielmehr überlegt werden, wie ausschließende Grenzen in potentiell anschließende Schwellen  umgewandelt werden können.“, so Zillinger. „Nur wenn wir Durchlässigkeit schaffen, schaffen wir Integration.“

Die kleinteilige ethnographische Erforschung dieser Migrationsbewegungen verdeutlicht, dass Prozesse von Grenzen und Schwellen, von Aufbruch und Ankunft, von Bewegung und Sesshaftigkeit, keine unabänderlichen Automatismen sind. Sie verlangen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von allen Seiten – und vielfache Übersetzungen, die mit dem Austausch von Erfahrungen, Emotionen und Alltäglichkeiten beginnen. Es sind Prozesse, die Diskussionen notwendig machen – in den Herkunfts-, wie in den Zielländern und damit auch an Orten, an denen der öffentliche Raum für diese komplexen und schwierigen Themen weiter zu schrumpfen scheint, so Zillinger.

Khalid, der junge Mann, dem mit Hilfe seiner Familie und der Sufi-Bruderschaften, von Freunden und Bekannten, die Ankunft in Europa gelungen ist, lebt mittlerweile legal in Brüssel. Er hat gehofft, geschummelt, geklagt und am Ende geheiratet.

Von Sammy Khamis