zum Inhalt springen

Marx im Süden

150 Jahre nach der Veröffentlichung ist „Das Kapital“ von Karl Marx immer noch Gegenstand von Debatten. Marx habe sich nur für weiße Industriearbeiter_innen interessiert und die Gesellschaften des globalen Südens nicht verstanden. Eine Entgegnung.

Zwischen der Oktoberrevolution von 1917 und dem Abflauen der antikolonialen Befreiungsbewegungen Mitte der 1970er war Marxismus ein wichtiger Bezugspunkt für Millionen von Aktivist_innen und Intellektuellen im Globalen Süden und Norden. Nach dem Scheitern des Staatssozialismus in Osteuropa etablierte sich jedoch die Postkoloniale Theorie an US-amerikanischen Eliteuniversitäten. Schon in seinem Klassiker „Orientalismus“ von 1978 unterstellte der US-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said, Marxens Weltsicht habe sich kaum von imperialistischen Denker_innen des 19. Jahrhunderts unterschieden. Marx hätte sich Indien und China als stagnierende Gesellschaften vorgestellt, deren Entwicklung nur durch den britischen Kolonialismus von außen durch Gewalt angestoßen werden könne. Akademischer Marxismus wurde in Folge des Aufstiegs der Postkolonialen Theorie als kritische Analyse globaler Machtverhältnisse marginalisiert.

Gegen diesen Trend veröffentlichte Kevin Anderson, Professor an der Universität von Kalifornien, sein Buch „Marx an den Rändern“. Anderson zeigt, dass Marxens Analysen der nicht-westlichen Gesellschaften zunehmend differenzierter wurden. In Studien zu Russland und Indien habe Marx versucht, einen alternativen Entwicklungsweg zum Kommunismus zu finden. Aufständische schwarze Sklav_innen, anti-koloniale Inder_innen, irische Nationalist_innen oder polnische Bäuerinnen und Bauern sah Marx als Verbündete der europäischen Arbeiterklasse in einer globalen Revolution. Als Journalist war Marx einer der ersten in Großbritannien, der offen die Notwendigkeit der Unabhängigkeit Indiens thematisierte.

Vivek Chibber legte mit seinem Buch „Postkoloniale Theorie und die Gespenster des Kapitals“ einen direkten Generalangriff auf diese akademische Strömung vor. Chibber argumentiert, dass Kapitalismus einen universellen Charakter habe. Es sei zweitrangig, ob Arbeiter_innen beten oder Kapitalist_innen ein Orakel befragen, solange die Produktion den Gesetzen des Profits folge. Die Vertreter_innen der Postkolonialen Theorie würden hingegen lokale kulturelle Besonderheiten überbetonen. Dadurch seien sie zu keiner Kritik des globalen Kapitalismus fähig. Außerdem besteht Chibber darauf, dass die Kämpfe der Arbeitenden auch auf der Verteidigung universeller menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung, Sicherheit und körperliche Unversehrtheit beruhen würden. Vertreter_innen der Postkolonialen Theorie hätten zum Beispiel den indischen Bäuerinnen- und Bauernbewegungen unterstellt, nicht auf Grund von rationalen und materiellen Gründen zu protestieren, sondern aus religiösen. Damit würden sie die Bäuerinnen und Bauern selbst „orientalisieren“, trotz ihrer ständigen Kritik an „orientalistischen Diskursen“. Mit der Leugnung des universellen Charakters menschlicher Bedürfnisse hätte die Postkoloniale Theorie die Grundlage für einen gemeinsamen globalen Kampf der Arbeitenden zerstört.

Wichtig sind diese Debatten angesichts der großen globalen Umwälzungen der Gegenwart. China und Indien sind in atemberaubenden Tempo zu Zentren des Weltmarktes aufgestiegen. Im Zuge der nachgeholten Industrialisierung sind diese beiden globalen Riesen, aber auch Südafrika, Südkorea, Vietnam oder Bangladesch zu Unruheherden mit militanten Arbeitskonflikten geworden. Allein in China ist in den vergangenen 30 Jahren eine neue Arbeiter_innenklasse von 200 Millionen Menschen aus ländlichen Migrant_innen entstanden. Ihre zweite Generation verliert zunehmend den Bezug zu den Dörfern und wird in „freie Lohnarbeiter_innen“ verwandelt - Nährboden für weitere Arbeitskonflikte.

Im 21. Jahrhundert erscheint daher nicht Marx als eurozentristisch, sondern der Abgesang auf Industriearbeit und Klassenkonflikte des Mainstreams der westlichen Sozialwissenschaften. Die Dekonstruktion, also die Entlarvung von globalen Machtverhältnissen ist der Postkolonialen Theorie bisher ohnehin nur auf dem Papier gelungen.   

Von Felix Wemheuer

Zum Weiterlesen: Felix Wemheuer (Hg.), Marx und der globale Süden, Papy Rossa , 2016, 19,90 Euro.