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Akkordarbeit im Namen der Rose

Mehr als die Hälfte der Valentinstag-Rosen kommen aus Kenia. Die Schnittblumen-Industrie ist der größte Arbeitgeber in der Region um den Naivasha-See.

Mildes Klima, ein fruchtbarer vulkanischer Boden, reichlich Frischwasser, billige Arbeitskräfte, steuerliche Privilegien, politischer Rückhalt und die gute Anbindung an den Flughafen von Nairobi, von dem aus täglich Flüge in alle Himmelsrichtungen starten: es waren diese idealen Standortbedingungen, die Anfang der 1970er Jahre die ersten ausländischen Firmen dazu bewogen, sich am „Lake Naivasha“ in Kenia niederzulassen, um dort in großem Maßstab Schnittblumen anzubauen. Innerhalb weniger Jahrzehnte entstand an dem rund 1890 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Süßwassersee ein agro-industrieller Komplex mit einer jährlichen Produktion von circa 150.000 Tonnen Frischrosen.

„Die Schnittblumenproduktion ist die treibende Kraft des Wandels im sozial-ökologischen System des Naivashasees“, sagt der Kölner Ethnologe Michael Bollig, Vorstandsmitglied des Global South Studies Centre (GSSC) und Mit-Initiator einer interdisziplinären Köln-Bonner Forschergruppe. Die beschäftigt sich an mehreren Standorten in Kenia und Südafrika, darunter dem „Lake Naivasha“, mit den unter anderem durch Globalisierung und intensivierte Nutzung herbeigeführten Umbruchprozessen im ländlichen Afrika.

Kenia beliefert als einer der weltweit größten Frischrosen-Exporteure vor allem Kunden in Europa, wo man rote, rosa oder gelbe Rosen inzwischen zu jeder Jahreszeit im Supermarkt kaufen kann, auch mitten im Winter, zu Weihnachten oder zum Valentinstag. Allein Deutschland importierte 2016 mehr als 1,5 Milliarden Stück. Rund zwei Drittel kamen aus dem agro-industriellen Zentrum am „Lake Naivasha“, wo die Pflanzen aufgezogen, gewässert, mit Pestiziden behandelt, eines frühen Morgens von Pflücker-Kolonnen geschnitten, in klimatisierten Hallen sortiert, gebündelt, verpackt, zu Paletten gestapelt und in einen auf drei Grad Celsius heruntergekühlten Lkw verladen wurden, der sie über die Autobahn zügig zum etwa 90 Kilometer entfernten Flughafen transportierte. Im Prinzip kann es sein, dass die Ware schon zwei Tage später ihren Endkunden erreicht, der sich vermutlich nur selten Gedanken darüber macht, dass diese Blumen, mit denen er entweder sich selber oder jemand anderem eine Freude bereiten möchte, eben erst durch die Hände kenianischer SchichtarbeiterInnen gegangen sein könnten.

Arbeiterinnen in Kenia binden Schnittblumen, Foto: Gerda Kuiper

Mit rund 40.000 Beschäftigten ist die Schnittblumenindustrie der größte Arbeitgeber in der Region um den „Lake Naivasha“. Überwiegend handelt es sich um Zuwanderer aus anderen Teilen Kenias. Michael Bollig interessiert sich eineresits für die globale Wertschöpfungskette beim Blumenhandel und deren lokale Auswirkungen, andererseits aber auch für die Frage, „welche Muster der sozialen Organisation die ArbeiterInnen unter den neuen Bedingungen einer nur noch an einen Sektor oder sogar einen einzigen Arbeitgeber gebundenen Lohnarbeit entwickeln“.

Wo kommen diese Menschen eigentlich her? Warum haben sie ihre Heimatorte verlassen? Wie sehen ihre Zukunftsperspektiven aus? Wie lebt es sich in den hoffnungslos überfüllten Siedlungen, die durch den ungeordneten Zustrom Zehntausender von Arbeitsmigranten entstanden, weil sich weder die Schnittblumenindustrie noch die Politik dafür verantwortlich fühlten, den Ankömmlingen eine Unterkunft mit der erforderlichen Infrastruktur zu bieten?

Solche Fragen ist Bolligs Kölner Mitarbeiterin Gerda Kuiper mit den Mitteln der ethnografischen Feldforschung nachgegangen. Sie betrat damit auch methodisch Neuland, weil die Agrar-Industrie bislang kaum aus einer anthropologischen Perspektive heraus betrachtet wurde. Das Ergebnis ist ein weitaus differenzierteres Bild von der Lage am „Lake Naivasha“ als es in der Vergangenheit schon gezeichnet worden ist. Kuiper nennt als extremes Beispiel die grotesk überzeichnete Schreckensvision von „Hunderttausenden hungriger, verzweifelter, arbeitsloser Männer und Frauen“, die sich dort angeblich ansammeln, wie es der US-Journalist Mark Seal in seiner Biographie der Umweltaktivistin Joan Root behauptete.

Typischerweise verfügen die Männer und Frauen, die sich auf den Weg in Afrikas „Hauptstadt der Rosen“ machen, dort bereits über enge persönliche Kontakte. In einer Analyse persönlicher Beziehungsnetzwerke erklärten nahezu alle Befragten, dass sie bei ihrer Ankunft auf die Unterstützung durch Verwandte oder Freunde hätten zurückgreifen können. Die Suche nach einem Job war der Hauptgrund, aber nicht das einzige Motiv, die Heimatregion zu verlassen. Einige kamen in Begleitung ihrer Eltern oder um zu heiraten, manche hatten eigentlich nur ihre Verwandten besuchen wollen und waren dann einfach hängen geblieben, andere waren auf der Flucht vor häuslicher oder politischer Gewalt. Auch außerhalb der Blumenfarmen eröffnete sich durch den massenhaften Zustrom von Arbeitsmigranten ein weites Betätigungsfeld – als Kleinunternehmer, Angestellte oder Gelegenheitsarbeiter zum Beispiel in Hotels, Wohnungsagenturen, Schulen, Änderungsschneidereien, Second-Hand-Läden oder Internet-Cafés.

Eine solche „Kettenmigration“, die über direkte Verwandtschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen vermittelt wird, hat in der Gegend um den Naivashasee eine lange Tradition, die sich bis in die Zeit der Kolonialisierung durch europäische Siedler Anfang des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Anders als häufig dargestellt, so Kuiper, sei sie keineswegs „aus dem Nichts heraus entstanden“, sondern in der Landesgeschichte tief verwurzelt. Nur in ihrer Größenordnung habe die massenhafte Zuwanderung die Region unvorbereitet getroffen, wobei letztlich auch die Industrie von den privaten Beziehungskanälen profitierte: „Sie half den Farmen bei der Arbeitsbeschaffung, weil sie die Netzwerke ihrer Beschäftigten anzapfen konnten, die sich über Naivasha hinaus erstreckten.“

Viele hatten ursprünglich gar nicht vor, längere Zeit zu bleiben. Obwohl daraus am Ende doch Jahre oder Jahrzehnte werden können, reißt die Verbindung zu den Heimatregionen typischerweise nicht ab. Vor dem Hintergrund explodierender Grundstückspreise und der ständigen Bedrohung durch ethnische Gewalt hält Kuiper es für „eher unwahrscheinlich, dass sich eine Mehrheit für ein dauerhaftes Leben als Lohnarbeiter in der Schnittblumenindustrie entscheidet“. Sie spricht von einer „translokalen“ Perspektive, die dazu führe, dass viele Zuwanderer zwar „zeitweilig in Naivasha ansässig, aber letztlich immer in Bewegung“ seien, ähnlich wie es auch schon bei Minenarbeitern in Zambia beobachtet wurde. Oft werde das verdiente Geld außerhalb von Naivasha in Grundstücke und Vieh investiert. „Mit anderen Worten: die agro-industrielle Lohnarbeit eröffnet Arbeitsmigranten die Möglichkeit, sich letzendlich als Kleinbauern in anderen Regionen von Kenia niederzulassen.“

In der Regel zahlen die Schnittblumenfarmen höhere Löhne als sie zum Beispiel in Gemüsefarmen üblich sind. Auch werden häufiger unbefristete Verträge geschlossen, was der Tatsache geschuldet ist, dass der Umgang mit den empfindlichen Rosen ein höheres Maß an Erfahrung erfordert: „Die Verletzlichkeit der Rosen erzeugt den Bedarf an einer stabilen und erfahrenen Arbeitskraft.“ Anders als bei den klassischen Prozessen der Industrialisierung lässt sich die menschliche Arbeitskraft in der Schnittblumenproduktion nicht ohne weiteres durch Maschinen ersetzen. Zentrale Aufgaben, wie vor allem das Schneiden der Rosen, müssen weiterhin von Hand erledigt werden.

Viele Beschäftigte sind Mitglieder in einer der ländlichen Spar- und Kreditgenossenschaften, einer so genannten „Savings and Credit Cooperation“ (SACCO). Auch wenn sich garantiert nicht alle individuellen Träume erfüllen würden, dürfe man doch nicht außer Acht lassen, „dass sich für die Menschen mit der Ankunft der Blumenindustrie zunächst einmal neue ökonomische Möglichkeiten eröffneten“, sagt Kuiper. Die Kehrseite ist die hohe Arbeitsdisziplin, die den Beschäftigten abverlangt wird. Der Arbeitsryhthmus in der Schnittblumenindustrie ist streng getaktet, das Arbeitstempo ist hoch und damit auch der Druck, der auf den ArbeiterInnen lastet. Mit dem Trend hin zu mehr unbefristeten Verträgen und der Übernahme von Verantwortung im jeweiligen Tätigkeitsbereich bilde die Blumenindustrie trotzdem eine bemerkenswerte Ausnahme in einer Welt der allgemeinen Flexibilisierung, meint Kuiper: „Verständlich wird diese Sonderstellung nur, wenn man in Rechnung stellt, dass diese Industrie ein landwirtschaftliches Produkt herstellt, das gewisse Anforderungen stellt und deshalb einer beständigen Arbeitskraft bedarf.”

Ob und inwieweit sich diese Erkenntnisse auch auf andere Zweige der Agrar-Industrie, speziell in Afrika, übertragen lassen, bleibt vorerst offen. Dafür müsste man die Verhältnisse in den Blumenfarmen am „Lake Naivasha“ mit denjenigen in anderen Agro-Industrien auf dem afrikanischen Kontinent vergleichen, die eine andere koloniale und post-koloniale Geschichte hinter sich haben und andere globale Märkte bedienen - wie zum Beispiel die riesigen Tabakplantagen in Zimbabwe oder die ausgedehnten Weingüter in Südafrika.

von Irene Meichsner